Nancy Fraser

Begründungen

Der Preis geht an die amerikanische Intellektuelle Nancy Fraser, deren unangepasstes Denken in einer konformistischen Welt umso wertvoller ist. Neben ihren wichtigen Beiträgen zum Thema „Anerkennung“ befasst sich Nancy Fraser mit Problemen der Ungerechtigkeit, insbesondere mit strukturellen Ungerechtigkeiten, die unsere Gesellschaft durchdringen und mit sozialen Unterteilungen wie Geschlecht, Rasse/ethnische Zugehörigkeit und Klasse zusammenhängen. Als kritische Theoretikerin analysiert sie diese Ungerechtigkeiten, deckt ihre Ursachen auf und macht Vorschläge, wie sie beseitigt werden könnten. Feministin zu sein, bedeutet nach ihren Worten einfach, „davon auszugehen, dass es geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten gibt, dass sie allgegenwärtig und strukturell bedingt sind, dass sie ‘falsch’ sind und dass sie prinzipiell überwunden werden können.“

Biographie

Nancy Fraser (geboren am 20. Mai 1947) ist eine amerikanische Philosophin, kritische Theoretikerin, Feministin und Henry A. und Louise Loeb Professorin für Politik- und Sozialwissenschaften sowie Professorin für Philosophie an der New School in New York City. Fraser ist bekannt für ihre Kritik an der Identitätspolitik und ihre philosophischen Arbeiten über den Begriff der Gerechtigkeit; sie ist auch eine überzeugte Kritikerin des neoliberalen Kapitalismus. Fraser erhielt die Ehrendoktorwürde von sechs Universitäten in fünf Ländern und ist Ritter der französischen Ehrenlegion sowie Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Als ehemalige Präsidentin der American Philosophical Association Eastern Division erhielt sie 2010 den Alfred-Schutz-Preis für Sozialphilosophie dieser Organisation und 2018 den Prix Mondial Nessim-Habif der Universität Genf. Ihre Arbeit wurde dreimal von Richtern des brasilianischen Obersten Gerichtshofs in Stellungnahmen zitiert, in denen die Gleichstellung der Ehe, die positive Diskriminierung und die kollektiven Landrechte von Einwohnern mit afrikanischen Vorfahren bestätigt wurden. Fraser schloss 1969 das Studium der Philosophie am Bryn Mawr College ab und promovierte 1980 in Philosophie am Graduate Center der City University of New York. Bevor sie an die New School wechselte, lehrte sie viele Jahre lang an der Philosophieabteilung der Northwestern University und war Gastprofessorin an Universitäten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Schweden, Österreich, dem Vereinigten Königreich und in den Niederlanden. Sie war Mitherausgeberin von Constellations: An International Journal of Critical and Democratic Theory und ist jetzt Mitglied des Redaktionsausschusses der New Left Review. Sie hielt die Tanner Lectures an der Stanford University, die Spinoza Lectures an der Universität Amsterdam, die Marc Bloch-Vorlesung an der École des hautes études en sciences sociales in Paris und die Karl Polanyi-Vorlesung an der Universität Wien. Im Juni 2022 wird sie die Walter-Benjamin-Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin halten.
Fraser hat über ein breites Spektrum an Themen geschrieben. In ihren jüngsten Büchern und Aufsätzen schlägt sie eine neue kritische Theorie der kapitalistischen Gesellschaft vor, die die ihr innewohnende Tendenz zur Aushöhlung der Demokratie, zur Ausbeutung der Pflegetätigkeit von Frauen, zur Enteignung des Reichtums farbiger Gemeinschaften und zur Zerstörung der Natur aufzeigt.
Fraser ist auch für ihre philosophischen Arbeiten zum Begriff der Gerechtigkeit bekannt. Sie unterscheidet zwei Dimensionen der Gerechtigkeit: Verteilung (mit Schwerpunkt auf Ressourcen und Wohlstand) und Anerkennung (mit Schwerpunkt auf Respekt und Wertschätzung). Für Fraser sind beide gültig und müssen integriert werden – sowohl in der Theorie als auch in der realen politischen Praxis. In den 1990er Jahren kritisierte sie die einseitige Fokussierung vieler Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, einschließlich des Feminismus und des Antirassismus, auf die Politik der Anerkennung in einer Zeit, in der die Neoliberalisierung die Ungleichheit zwischen den Klassen erheblich vergrößerte.
In den darauffolgenden Jahrzehnten verfeinerte Fraser diese Diagnose und übte starke Kritik am liberalen Feminismus, den sie als „Gehilfen“ des Neoliberalismus bezeichnete. In Anlehnung an Sheryl Sandbergs 2013 erschienenes Buch Lean In erklärte Fraser:
Für mich geht es beim Feminismus nicht einfach darum, eine kleine Anzahl einzelner Frauen in Positionen mit Macht und Privilegien innerhalb der bestehenden sozialen Hierarchien zu bringen. Es geht vielmehr darum, diese Hierarchien zu überwinden. Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit den strukturellen Ursachen der geschlechtsspezifischen Vorherrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft – vor allem mit der institutionalisierten Trennung zwischen zwei vermeintlich unterschiedlichen Arten von Tätigkeiten: einerseits der so genannten „produktiven“ Arbeit, die historisch gesehen mit Männern in Verbindung gebracht und durch Gehälter entlohnt wird, und andererseits den „Pflegetätigkeiten“, die historisch gesehen oft unbezahlt sind und immer noch hauptsächlich von Frauen verrichtet werden. Meiner Meinung nach ist diese hierarchische Geschlechtertrennung zwischen „Produktion“ und „Reproduktion“ eine bestimmende Struktur der kapitalistischen Gesellschaft und eine begründete Ursache der in ihr verankerten Geschlechterasymmetrien. Es kann keine „Emanzipation der Frau“ geben, solange diese Struktur bestehen bleibt.