INTERNATIONALER NONINO-PREIS 1987

Henry Roth

Ein junger, zwischen vierundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alter Amerikaner schrieb eine Autobiographie über seine Kindheit zwischen 6 und 8 Jahren. Er veröffentlichte sie mit großem Erfolg 1934, und dieses in der Literaturgeschichte einzigartige Werk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in alle Sprachen übersetzt. Es ist eine „wissenschaftliche Rekonstruktion und eine poetische Erinnerung“ an diese beiden Jahre, in denen der Junge aufwuchs. Aus der Dunkelheit eines fast tierischen Instinkts entdeckt er von Minute zu Minute die Realität der Existenz, bis er den leuchtenden Tagesanbruch des Verstandes erreicht.

David, der Sohn eines 1906 in Österreich geborenen jüdischen Bauern, reist mit seiner Mutter zum zwei Jahre zuvor nach New York emigrierten Vater. Aber in New York trifft die alte, bäuerliche und jüdische Kultur Europas einer armen Familie in einer kleinen Wohnung voller Erinnerungen und Reuegefühle auf die neue großstädtische, kosmopolitische, multireligiöse amerikanische Kultur in einem Armenviertel – aufregend, tragisch, komisch. Grausame Gewalt und süße, berauschende Freiheit.

Wie vermochte es der junge Henry Roth, sich nach zwanzig Jahren an seine Kindheit zu erinnern? Nun, nennen wir es einen Traum. „Chiamalo sonno” („Nenne es Schlaf“)

Und daher ist Roths Dichtung auch wissenschaftlich: Er kann sich nicht nur an die Ereignisse erinnern, sondern auch mit mikroskopischer Genauigkeit an die Gefühle, mit denen sie das Kind David wahrgenommen hat.

Es verwundert nicht, dass Roth nach diesem Buch kein anderes mehr geschrieben hat, abgesehen von wenigen und kurzen Veröffentlichungen in einer Zeit des Schweigens, die von 1934 bis heute andauert. Wer „Nenne es Schlaf“ aufmerksam gelesen hat, weiß, dass es ein in sich abgeschlossenes, umfassendes Werk ist. Roth hat damit alles gesagt. Es ist so, wie es in der Bibel heißt: „Und nach dem siebten Tag ruhte er”.

Es ist nicht verwunderlich, dass “Nenne es Schlaf” für den Preis der bäuerlichen Kultur nominiert wurde. Solange sich die Menschheit von Pflanzen und Tieren ernährt, steht die bäuerliche Kultur im Vordergrund bei der Lösung aller Probleme der Welt. Und es ist nicht nur eine Momentaufnahme der Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde, oder der Situation 20 Jahre davor, sondern es ist das aktuelle und vorausschauende Symbol unserer Bedingungen jetzt und in Zukunft in der ganzen Welt. Für uns menschliche Wesen geschieht etwas Ähnliches und wird geschehen, was dem kleinen David in seiner Kindheit zwischen seinem 6. und 8. Lebensjahr geschah.