Angelo Floramo und Cooperativa INSIEME ‘Früchte des Friedens’

BEGRÜNDUNGEN

Angelo Floramo, Akademiker, Historiker, Mittelalterforscher und wissenschaftlicher Berater der Biblioteca Guarneriana in San Daniele del Friuli, ist, wie er sich selbst gerne bezeichnet, ein “Kind der Grenze”. Auf seinen Studienreisen durch die ältesten Bibliotheken, Dörfer und Klöster Italiens und Europas war er stets auf der Suche nach den Fäden, die die friaulische und die slowenische Kultur dort verbinden, wo die beiden Kulturen miteinander verschmelzen (Balkan Circus 2013 und La Veglia di Ljuba 2018, Verlag Ediciclo und Bottega Errante).
Auf der Suche nach den gemeinsamen Wurzeln durch die “Mütter” – die “majke” – die, verbunden mit ihrem Land, zu einem Lied im tiefsten Sinne der Existenz werden, stieß er auf die INSIEME-Kooperative von Frauen aus Bratunac und Srebrenica, Frauen aus Bosnien, wie sie sich selbst gerne nennen, nicht Serbinnen, Kroatinnen, Bosnierinnen, nicht Musliminnen, Katholikinnen, Orthodoxinnen, Jüdinnen. Einfach nur Frauen. Diese Frauen zeigen, dass es möglich ist, eine kollektive Identität trotz der durch den Krieg auferlegten Trennungen wiederherzustellen, und sie haben einen Trauerprozess eingeleitet, der auf der Anerkennung des Schmerzes des Anderen beruht. Der oder die Andere wird nicht mehr als Feind, sondern als Opfer der gleichen Gewalt verstanden. Dies ist der unschätzbare ethische Wert der INSIEME-Kooperative “Frutti di Pace” (Früchte des Friedens), die 2003 von einer Gruppe “praktizierender Pazifisten” wie ihrer Vorsitzenden Radmila Zarkovic gegründet wurde.

Cooperativa INSIEME ‘Früchte des Friedens’

Jedes Jahr besucht Angelo Floramo mit seinen Schülern und Studenten das Gebiet um Srebrenica, eine der vom Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 am stärksten betroffenen Gegenden. Dort töteten die Milizen von General Ratko Mladić alle Männer im Alter zwischen sechzehn und fünfundsechzig Jahren. Jede Frau, die in dieser Region lebt, hat jemanden verloren: einen Bruder, den Vater, einen Sohn. Die Körper dieser Frauen wurden zu Schlachtfeldern, auf denen Wunden, Missbrauch und Gewalt vorherrschten. Diejenigen, die dort gelebt oder das Land nach der Zerstörung gesehen haben, verstehen, von welchem Wunder wir sprechen … Frauen aus Bosnien, wie sie sich selbst gerne nennen. Nicht Serbinnen, Kroatinnen, Bosnierinnen. Nicht muslimisch, katholisch, orthodox, jüdisch. Einfach nur Frauen. Diese Frauen haben gezeigt, dass eine kollektive Identität trotz der durch den Krieg verursachten Spaltungen wieder aufgebaut werden kann. Sie haben sofort verstanden, dass es für den Sieg des Friedens nicht ausreicht, Dächer wieder hochzuziehen, unter denen man wohnen kann, oder Kirchen und Moscheen, in denen man betet. Sie wissen, dass es notwendig ist, wieder grundlegende Lebensbedingungen zu schaffen, vor allem Arbeitsmöglichkeiten, die in der wiederhergestellten Gemeinschaft miteinander geteilt werden können. Um die Kultur des Krieges zu besiegen, setzten sie einen Trauerprozess in Gang, der auf der Anerkennung des Schmerzes des Anderen beruhte. Der oder die Andere wird nicht mehr als Feind, sondern als Opfer der gleichen Gewalt verstanden. Dies ist der unschätzbare ethische Wert der INSIEME-Kooperative des Projekts “Frutti di pace” (Früchte des Friedens), die 2003 von einer Gruppe “praktizierender Pazifisten”, wie ihrer Vorsitzenden Radmila (Rada) Zarkovic, gegründet wurde. Das wichtigste Ziel der von Rada zusammen mit Skender Hot gegründeten Kooperative war es, schwächere Familien zu vereinen, indem sie ihnen die Möglichkeit bot, Beerenfrüchte anzubauen. In zehn Jahren ist die Genossenschaft INSIEME von 10 auf 500 Mitglieder angewachsen. Sie beschäftigt mehr als 20 Personen, alles Überlebende des Massakers und Witwen, die nach einer Lösung für das Leben in einem von Krieg und Konflikten stark gebeutelten Land suchten, das weiterhin ihr Zuhause war. Im Laufe der Jahre ist es der Genossenschaft gelungen, Gerätschaften für die Herstellung von Säften und Konfitüren zu erwerben. Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Genossenschaft ist ein kleiner Familienbetrieb, in dem der Eigentümer das Land direkt bewirtschaftet und jede Phase der Produktion kontrolliert, die Verwendung von nicht gentechnisch veränderten Obstsorten und, wann immer möglich, die Wahl lokaler und traditioneller Früchte sowie die Anwendung von Anbau-, Verarbeitungs- und Reifungsmethoden, die die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt respektieren und ökologisch nachhaltige Anbautechniken anwenden.
Vor dem Krieg war Bratunac eines der größten Erntegebiete für Beerenfrüchte, insbesondere Himbeeren, im gesamten ehemaligen Jugoslawien. Und gerade mit der Rückkehr zur Verarbeitung dieser traditionellen Produkte will das Projekt die Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen fördern und ihnen eine Arbeitschance geben, um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu bieten und die Möglichkeit, sich wieder in ein soziales Gefüge einzugliedern, das durch die langen Jahre des Konflikts zerstört wurde.
Heute unterstützt die Genossenschaft die Landwirte in der Produktionsphase und befasst sich mit der Ernte, dem Einfrieren, der Verarbeitung und dem Verkauf von Produkten aus Beerenfrüchten, einem typischen Erzeugnis der traditionellen Landwirtschaft der Region.
“Für eine bessere Welt reichen Träume nicht aus, mit den Früchten des Friedens kann man aber die Welt verändern” steht auf jedem Glas. Der Wille, dem Albtraum des Krieges zu entfliehen und in sein Heimatland zurückzukehren, hat dieses Konfitürenglas möglich gemacht, das die Frauen von Bratunac und Srebrenica in mühevoller Kleinstarbeit Stück für Stück herstellten.
Die Wiederentdeckung der Menschenwürde durch Arbeit, die Menschen verbindet und den Frieden wiederherstellt. Die Produkte der Kooperative INSIEME kann man in Italien in den COOP-Verbrauchermärkten käuflich erwerben.

LEBENSGESCHICHTE

Angelo Floramo (1966 in Udine geboren) studierte Geschichte und schrieb seine Abschlussarbeit über lateinische Philologie des Mittelalters. Seit 1992 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Triest. Seit 2012 arbeitet er mit der Biblioteca Guarneriana in San Daniele del Friuli zusammen (der ältesten Bibliothek in Friaul und einer der ersten öffentlichen Bibliotheken in Europa, Gründungsjahr 1466) als wissenschaftlicher Berater für die Abteilung Antike Schriften, Manuskripte und seltene Bücher. Als Gründungsmitglied von MediEuropa MediAetas, dem Internationalen Zentrum für Mittelalterstudien für Mittel-, Ost- und Südosteuropa, organisiert und beteiligt er sich an zahlreichen Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Veranstaltungen für das breite Publikum. Seit 2020 unterrichtet er Anthropologie des Bildes an der Akademie der Schönen Künste “Tiepolo” in Udine und seit 2023 ist er Lehrbeauftragter für Geschichte der Ernährung an der Universität Udine.
Seit jeher hat sich Floramo immer als Sohn der Grenze betrachtet, als Sohn dieses multikulturellen Landes, das sich an miteinander verwobenen Schnittstellen entwickelt, als jemand, der die Unterschiede der Akzente, der Geschmäcker, der Vielschichtigkeiten zu erfassen weiß. Mütterlicherseits ist er Friauler, väterlicherseits ist er ein “Halbblut” verschiedenster Herkunft, von ferner und vielfältiger Abstammung, aufgewachsen in einem slowenischen Dorf, in Sveto, inmitten der Weinberge des Karstplateaus, das Gorizia mit Triest verbindet. Zu Studien- und Forschungszwecken hat er die ältesten erhaltenen Bibliotheken Italiens und Europas besucht und erforscht sie noch immer, wobei er sich oft in der Faszination der vor den Augen der Welt verborgenen Klöster verliert.
Floramo ist der Verfasser einer Reihe von Büchern über das Friaul, über seine Geschichte und seine Bewohner, in denen er aufzeigt, wie dieses scheinbar abgelegene Land jahrhundertelang das Herz eines vielgestaltigen Europas war, in dem Völker, Sprachen und Kulturen einander begegneten; zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Storie Segrete della Storia del Friuli (2018) und Breve Storia del Friuli (2020), erschienen bei Newton Compton.
Seit jeher an der Geschichte des Balkans interessiert, der als fast mythisches Epizentrum eines noch zu erforschenden Europas verstanden wird, begleitet Floramo jedes Jahr seine Schüler und Studenten in diese Gebiete, um deren Seele in den Wirtshäusern und auf den Dorfplätzen zu erforschen, unter den einfachen Menschen, wo er Zeitzeugen von Ereignissen trifft, die oft vergessen werden. Seinem Interesse folgend schrieb er Balkan Circus (Ediciclo 2013), ein Buch, das auf halbem Weg zwischen erzählerischer Reportage und Seelenwanderung anzusiedeln ist und von einer Erfahrung erzählt, von einer Reise in den Lebensatem einer bunten und erstaunlichen Welt. Danach folgte La Veglia di Ljuba (Bottega Errante 2018), eine Reise, die immer wieder die Grenzen zwischen Italien und Jugoslawien überschreitet und vom Schicksal von Kindern, Männern und Frauen erzählt, die sich zu oft falschen Zeiten am richtigen Ort befanden.
Zu seinen weiteren Werken gehören: Guarneriana segreta (2015), L’Osteria dei passi perduti (2017), Come Papaveri Rossi (2021), Vino e Libertà (2023), alle erschienen bei Bottega Errante und La sensualità del libro. Piccole erranze sensoriali tra manoscritti e libri antichi (Ediciclo 2019).
Darüber hinaus hat er zahlreiche Essays und Fachartikel über das Mittelalter und seine Träume veröffentlicht. Er lebt in San Pietro di Ragogna im Friaul und ist Lehrer für Geschichte und italienische Sprache und Literatur an weiterführenden Schulen.